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Gespräche



 20.06.2025 - 88- Das Gespräch mit Pierre Jarawan 



Autor Pierre Jarawan

Pierre Jarawan ist Autor und freier Fotograf. Sein Romandebüt AM ENDE BLEIBEN DIE ZEDERN erschien 2016. Der Roman wurde unter anderem mit dem Literaturstipendium der Stadt München, dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem AZ-Literaturstern ausgezeichnet und als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt und mit dem Prix des Lecteurs du Livre de Poche geehrt. Der Roman ist heute, übersetzt in viele Sprachen, ein internationaler Bestseller.
2020 erschien sein zweiter Roman EIN LIED FÜR DIE VERMISSTEN, der in englischer Übersetzung auf der Longlist des Dublin Literary Awards stand. 2024 erhielt er den Ernst-Hoferichter-Preis. Sein neuester Roman:FRAU IM MOND ist im Frühjahr 2025 im Berlin Verlag erschienen.


Hallo Pierre Jarawan, nach „Ein Lied für die Vermissten“ und „Am Ende bleiben die Zedern“ ist nun ein neuer Roman von Ihnen erschienen: „Frau im Mond“. Dieser gibt Rätsel auf. Ein dichtes Buch. Ihr eleganter Stil ist ein Lesevergnügen und Sie gehen mit den geschichtlichen Ereignissen respektvoll um.
In den 1960er Jahren baute in Beirut eine Studentengruppe mit ihrem Professor Raketen, jagten diese mit Erfolg in den Himmel, und der Libanon war plötzlich ein Weltraum-Player neben den Weltmächten. Eine blühende Zukunft lag vor ihnen.
Dieses Buch „Frau im Mond“ ist eine Hommage an den libanesischen Raketen-Pioniergeist der 1960er Jahre. Es war eine revolutionäre Aufbruchstimmung. Doch bei dieser Geschichte bleibt es nicht. Was ist mit dieser Frau in „Frau im Mond"? Die Enkelin von Großvater Maroun, damals der Physiker, der die großartige Idee hatte, mit seinen Studenten dieses Raketenwagnis einzugehen, vermutete in seinen Erzählungen Geheimnisse. Sie wollte alles wissen. Die Lebanese Rocket Society war sogar auf einer Briefmarke verewigt worden.

Bevor wir darüber sprechen
,
empfehle ich allen Lesenden, die in das Buch eintauchen möchten, sich einen gemütlichen Sessel, Sofa auszusuchen, und bereit zu sein für die bewegte Lebensgeschichte von Anush und Maroun, sie sind die Großeltern der Ich-Erzählerin Lilit. Natürlich kommen ihre Eltern Jules und Dana und ihre Zwillingsschwester Lina dazu. Ihre Geschichten sind vielschichtig und spannend wie ein Kaleidoskop.
Lilit findet Geheimisse ihrer Familie, und brennend möchte sie wissen, was sich dahinter verbirgt. Der Großvater Maroun, jetzt hochbetagt, lebt in Montreal im Seniorenstift. Lilit macht sich als Filmerin auf den Weg von Montreal/Canada nach Beirut auf der Suche nach ihren libanesischen und armenischen Vorfahren. Sie befasst sich mit deren politischen Themen, vergisst nicht den Genozid an den Armeniern anfangs des 20. Jahrhunderts. Lilit erfährt viel über den Libanon und dessen Entwicklung.


Eine Frage:
Wie wurde bei Ihnen zu Hause gesprochen? Ich meine, wie wurden Geschichten erzählt? Uns Kindern in Deutschland werden im allgemeinen Märchen beim zu Bett Gehen vorgelesen, abends wird Fernsehen geguckt, oder man ist außer Haus. Ganz früher, bevor es Fernseher gab, saß die Familie beisammen.
Also, bei uns war das auch nicht viel anders. Wir hatten Märchenbücher zu Hause, deutsche, arabische. Es wurde vorgelesen oder erzählt. Hauptsächlich waren es „Gute Nachtgeschichten“. Ich denke, mit Kindern ist das überall so.

Ein Ausschnitt auf dem Buch „Frau im Mond“:
Ist das Geschenk in diesem Raum? Er schmunzelt schweigend, dann mit einer gefühlten Ewigkeit deutet er zur Wand. Was macht den Zauber von Gegenständen aus, die unsere Lebensräume bevölkern? Eine alte Vase auf dem Kamin, ein Taschenmesser in der Kommode, ein Zeichenstift? Die Antwort lautet: Sie sind gleichzeitig sichtbar wie verwunschene Gegenstände in Märchen. Wir sehen sie als einfache Dinge, während sie für Personen, denen sie gehören, aufgeladen sind mit Erinnerungen und Geschichten. Der Teppich, auf den unser Großvater nun deutete, hing seit Jahren dort an der Wand.
b>Dieser Teppich begleitet uns Leser durch das Buch und spielt in Ihrem Roman eine wichtige Rolle. Beeindruckend wie Sie „Das Lesen der Teppiche“ beschreiben. Wirklich sehr beeindruckend. Danke für diesen tiefen Einblick in die Philosophie der Teppichknüpferei, und es ist außergewöhnlich, dass ein Buch, das in Kapitel eingeteilt ist, rückwärts anfängt, also von Kapitel 50, 49, 48 – 0.
Welches System steckt dahinter?
Es ist eine Hommage an den Stummfilm von Fritz Lang „Frau in Mond“. Fritz Lang hat bei diesem Film den Countdown erfunden. Und da Raketenstarts sind mit Countdowns verknüpft sind, und ja auch der Roman von einem vergessenen Raketenprojekt erzählt, war die Rückwärtszählung ein naheliegender erzählerischer Kniff, der auch Spannung erzeugt.

Kam Ihnen die Idee dazu gleich zu Anfangs des Buches?
Nein, eher gegen Ende, am Anfang war noch alles klassisch nummeriert.

In Ihrem Buch sind zwei Ereignisse von besonderer Wichtigkeit: Der Start der Weltraumrakete am
4. August 1966 in Beirut und
4. August 2020 die Explosion im Hafen von Beirut, die Beirut zerstörte und das Land erschütterte.
War das der Anlass, über die Gruppe Lebanese Rocket Society einen Roman zu schreiben?

Die Tatsache, dass diese Gruppe unbekannt ist. Es ist sehr lohnenswert Geschichten, über die man nichts weiß, nachzuspüren. Das war der Anlass. Die Geschichte der Lebanese Rocket Society, heute betrachtet, ist ja so unglaublich und es ist noch unglaublicher, dass noch niemand davon gehört hat. Ich fand dies als perfekte Idee für einen Roman. Es lässt sich darin so viel erzählen: Naher Osten, Selbstbestimmtheit, Innovation, Träume.

Wie war aber die Begegnung, zu entdecken, dass es diese Raketen gab?
Ich besuchte die Ausstellung im Haus der Kunst von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige „Two Suns in a Sunset” und sah dort zum ersten Mal die seltsam schönen Aufnahmen der Lebanese Rocket Society. Das zog mich an, und ich fing an zu recherchieren.

Sie sind sehr informiert, was Raketentechnik angeht. Das ist nicht normal für einen Schriftsteller, oder doch?
Es ist normal für einen Schriftsteller, der über Raketen schreibt. Davor hatte ich keine Ahnung davon. Man muss sich natürlich mit dem Stoff auseinandersetzen. Ich habe viel darüber gelernt, und am Ende geht es darum, gut informiert zu sein, um seinen Stoff zu beherrschen.

Drei Generationen, deren Identitätsfindung herausgefunden werden will. In Zeitungsartikeln entdeckt Lilit ‘zig Informationen über den Raketenstart. In Beirut trifft sie Menschen, die ihren Großvater kannten, und erfährt viel über das Leben in Libanon, der von Krisen geschüttelt wurde. Es ist schmerzhaft zu lesen, wie der Bürgerkrieg im Libanon 15 Jahre dauerte, kaum hatten sich die Menschen erholt, macht die Bankenkrise das Leben der Libanesen unerträglich, dann zerstört die Explosion am Hafen halb Beirut.
Haben Sie das persönlich mitbekommen?

Ich war nicht vor Ort. Aber es war ja nicht zu übersehen, was da passierte. Die Medien waren voll mit Nachrichten über diese unfassbare Explosion. Ich versuchte meine Verwandtschaft zu erreichen. Sie waren betroffen, aber zum Glück nicht verletzt.

Ihre Romane rüttelen auf. Meinen Sie, Literatur hat die Kraft, die Welt zu verändern?
Oh, das ist mir ein bisschen zu groß. Literatur hat die Kraft, das Denken von Einzelnen zu verändern, und wenn das im großen Maße geschieht, dann könnten die Menschen die Welt verändern. Veränderungen müssen immer vom Menschen ausgehen, nicht von Literatur. Insofern hoffe ich immer, dass Bücher Menschen verändern.

Das ist jetzt Ihr drittes Buch, das Sie geschrieben haben. Das erste Buch hat den Titel:„Am Ende bleiben die Zedern“. Eine Geschichte über den Nahen Osten und ein Rätsel über das Verschwinden eines Vaters. Wie kam es zu diesem Buch?
Ich wollte immer Romanautor werden und habe mich immer für‘s Schreiben interessiert. Es ist sicher nicht untypisch bei einem Debüt, etwas aus der eigenen Geschichte zu nehmen. Später, wenn das Handwerk beherrscht, kann man mehr von sich weggehen, ohne aus der eigenen Lebenswelt zu schöpfen.

Beim Stichwort Handwerk: Sie geben im Literaturhaus Unterricht im Schreiben, stimmt das?
Ja, ich leite dort die Abendwerkstatt.
Anm. d.Red.
Die Seminare der OFFENEN WERKSTATT verstehen sich als Treffpunkte, bei denen das Schreiben und das Reden übers Schreiben im Mittelpunkt stehen. In den LITERARISCHEN ABENDWERKSTÄTTEN treffen sich schon seit Jahren regelmäßig mittlerweile bekannte, immer aber auch neue Gesichter, um gemeinsam zu diskutieren, zu schreiben, Neues auszuprobieren – mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sie findet regelmäßig statt und ermöglicht einen wiederkehrenden Austausch.


Sind Sie ein Gefühls oder ein Kopfmensch?
Beides – beides gleichermaßen. Ich kann nicht schreiben, ohne auf den Kopf zu hören. Wenn ich mit weitem Bogen eine Geschichte anlege, brauche ich den Kopf. Auf der anderen Seite ist das Gefühl ebenso wichtig, wenn es einem signalisiert, dass mit dem Text vielleicht etwas nicht stimmt oder wenn eine spontane Idee deutlich besser ist, als das, was man sich vorher überlegt hat.

Ich würde es toll finden, wenn Sie für unsere Leserinnen und Leser sich mit drei Sätzen beschreiben. So zum Kennenlernen.
Hm, ich bin Schriftsteller und kann mir nicht vorstellen, ‘was anderes zu machen und wollen.
Ich habe die Hoffnung, dass ich mit meinen Büchern Menschen erreiche, die durch diese Bücher vielleicht sensibilisiert werden, und ich lebe in München und kann mir nicht vorstellen, wo anders zu leben.

Trotz komplexer Thematik sind Ihre Romane nicht verkopft, sondern sehr unterhaltsam geschrieben. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Ich glaube, dass Unterhaltung ein sehr guter Weg ist, Dinge zu vermitteln. Ich kann natürlich einen Roman über die Vermissten im Libanon schreiben, der ganz anders arbeitet, eher mit Leerstellen, ohne den Schwerpunkt auf der Geschichte. Aber die Frage ist dann, wie viele Leute erreicht man damit? Und wie viele erreicht man mit einer gut erzählten literarischen Geschichte? Sicher mehr, und das ist der Vorteil. Ich habe kein Problem mit dem Begriff der Unterhaltung.

Wenn Sie ein neues Buch planen und wollen anfangen zu schreiben, suchen Sie zuerst nach dem ersten Satz?

Ja, damit fängt es bei mir immer an. Das kann aber auch dauern, oder es gibt verschiedene Entwürfe, aber ein Gefühl sagt mir dann, welches der erste Satz sein wird.

Herr Jarawan,
zwischen Ihren Büchern „Ein Lied für die Vermissten“ und jetzt „Frau im Mond“ sind fünf Jahre vergangen. Ich bin sicher nicht die Einzige, die gespannt auf Ihr nächstes Buch wartet. Ich bewundere Ihre Erzählkunst und Ihre vielschichtigen Darstellungen.

Vielen Dank für das Gespräch



Pierre Jarawan
Frau im Mond
Berlin Verlag


©Steffi.M.Black (Text)
© P.J. privat (Bild)