Gespräche
01.05.2025 - 87- Das Gespräch mit Annegret Liepold

Autorin A. Liepold
Annegret Liepold ist Schriftstellerin. Sie studierte Komparatistik und Politikwissenschaften in München und Paris. Für die Arbeit an ihrem Debütroman Unter Grund erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.a. das Literaturstipendium der Stadt München sowie die Einladung zur 15. Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und zur Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus Berlin. 2022 war sie Finalistin des open mike. Sie arbeitet für die »Bayerische Akademie des Schreibens« am Literaturhaus München.
Hallo Annegret Liepold,
Du hast einen Roman voller Spannung geschrieben und sehr realitätsnah, der Titel: Unter Grund. Auf dem Buchumschlag läuft ein Fuchs durchs Unterholz. Der Titel ist auseinander gezogen in Unter und Grund. Ist das zufällig oder bewusst gewählt?
Das ist schon bewusst gewählt. Ich mochte die doppelte Bedeutung des Titels, dass die Naturebene drinsteckt, also der Grund, wo etwas ruht, ohne aufgeweckt zu werden. Es aber auch eine politische Komponente gibt, die im Untergrund mitschwingt. Das war ungefähr der Gedanke.
Franka, die Hauptfigur in Deinem Roman, ist Referendarin im Lehramt. Sie begleitet mit einer Schulklasse ihre Freundin Hannah, die als Journalistin den NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe im Münchner Landgericht verfolgt. Franka beobachtet den Prozess genau. Erinnerungen an ihre Jugendzeit im Fränkischen schleichen sich in ihr Gemüt.
Aus dem Buch:
Was sie (die Freunde, Anm. Bü+m) in dieser Nacht getan hatten, war Franka immer wie ein blöder Jugendstreich erschienen. Selbst während des Jugendprozess (ihres eigenen, Anm. Bü+m) begriff sie die Ungeheuerlichkeit ihrer Tat nicht. Eigentlich hat sie das ganze Ausmaß erst vor ein paar Tagen begriffen, als sie mit der Schulklasse im Gerichtssaal saß und zuhörte, mit wie viel Akribie und Hass die zehn Morde geplant worden waren. Plötzlich wurde ihr klar: Ich bin damals rechtsradikal gewesen. Genauso wie die hier, die angeklagt sind.
Das Buch ist eine Herausforderung, sich auch mit einer anderen Ideologie zu konfrontieren. Es beschreibt nur zu gut, was wohl in vielen jungen Menschen vorgeht. Unzufriedenheit, innere Zerrissenheit, das Abenteuer wird gesucht. Wie war das, das Arbeiten an diesem Buch?
Die Arbeit daran war stellenweise eine Herausforderung. Ich habe lange davor zurückgeschreckt, mich wirklich in den braunen Nazi-Sumpf zu begeben. Um die Figur im Buch nahbar zu gestalten, musste ich einerseits Grenze überschreiten, aber auch andererseits neue Grenzen finden. Deshalb habe ich zum Beispiel sehr bewusst keine Ich-Erzählstimme genommen, mit der sich die Leser*innen uneingeschränkt identifizieren könnten. So taucht vielleicht irgendwann die Frage auf, warum Franka, meine Protagonistin, nicht an einer Stelle einmal „Nein“ sagt, sondern den Weg der Radikalisierung immer weiter geht. Erst in der Szene, die du vorgelesen hast, also ziemlich am Ende, beginnt so etwas wie eine Reflexion und Aufarbeitung.
Hast Du mit jemandem zusammengearbeitet? Die Stadt München hat Dich zur Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung eingeladen.
Das sind zwei Sachen: von der Stadt München habe ich ein Literaturstipendium bekommen, und die Jürgen-Ponto-Stiftung ist eine Romanwerkstatt, bei der man sich bewerben kann. Ich war immer wieder in Romanwerkstätten zu Gast. Der Austausch war für mich sehr wichtig und es ist sehr hilfreich, gerade bei einem Debütroman, Rückmeldung von anderen Schreibenden zu bekommen. Auch in den verschiedenen Phasen des Schreibprozesses. In der Werkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung, wo ich ziemlich am Anfang mit Unter Grund war, hat man mich ermutigt, mich wirklich auf die Neonazi-Sache einzulassen, entgegen meiner inneren Widerstände. Später war ich auch noch in Berlin im Brecht Haus, wo mir der Austausch geholfen hat, die Fäden zusammenzufügen, um auch ein plausibles Ende zu finden.
Wie organisierst Du Deinen Schreibprozess, wie sieht Dein Alltag damit aus?
Es gibt ganz unterschiedliche Phasen. Und der Prozess wird sicher beim nächsten Buch anders sein als hier bei diesem ersten Buch. Ich musste mich erstmal herantasten und wusste auch lange noch nicht, dass der Text ein Roman wird. Irgendwann hatte ich eine Figur, und ein Thema, und konnte mich daran abarbeiten. Gleichzeitig aber muss ich auch mein Leben organisieren: wie bleibt mir Zeit zum Schreiben, aber wie verdiene ich auch genügend Geld, um in einer Stadt wie München zu leben. Anfangs war ich noch an der Uni angestellt, da habe ich stur jeden Morgen geschrieben. Später war ich dann am Literaturhaus München angestellt und hatte einzelne Tage in der Woche, an denen ich nur Schreiben konnte. Aber an sich ist Schreiben so eine Sache bei der man eigentlich zu allem Nein sagen müsste, wenn es voran gehen soll.
Das heißt: diszipliniert sein?
Ja, irgendwie schon. Und auch aushalten können, wenn es nicht vorangeht.
Hast Du Deinem Buch Grenzen gesetzt? Aus welcher Perspektive soll die Leserin, der Leser Franka verstehen?
Ich habe gewisse Grenzen gesetzt, etwa indem ich zwar aus Frankas Sicht aber in der dritten Person erzähle. Sodass man zwar sehr nah an der Protagonistin dran ist, und ihre Entscheidungen nachvollziehen kann. Da aber auch eine Lücke bleibt, in der die Leser*innen ihr Verhalten in Frage stellen können – aber auch nicht müssen. Ich wollte auf der einen Seite nicht moralisch werden.
Und auf der anderen Seite?
War es mir auch wichtig, nichts zu verharmlosen. Ich habe zwar nur wenig rassistischen oder antisemitischen Nazi-Sprech oder Neonazi-Parolen eingesetzt, an manchen Stellen war es aber auch wichtig Klartext zu sprechen, um deutlich zu machen, wie extrem die Szene ist, in der sich Franka bewegt.
Es ist ein Schreck zu erfahren, dass ein Haus, in dem man sich zu Hause fühlt, eine belastete Geschichte hat. Es ist eine starke Szene in Deinem Buch, wo Frankas Tante mit ihr auf den Friedhof geht und vor einem Grab stehen bleibt. Wie ist der Gedanke zu dieser Szene entstanden?
Tatsächlich ist diese Szene bei der Recherche entstanden: Ich habe viele jüdische Friedhöfe in Mittel- und Unterfranken besucht. Dabei bin ich irgendwann auf ein Foto aus der Nachkriegszeit aus einem unterfränkischen Dorf gestoßen: Darauf hält ein Ehepaar ein Laken aus einem Haus, auf dem steht: „Du sollst nicht stehlen“. Also das fünfte Gebot. Der Hintergrund war, dass diese Ehepaar das Haus am Ende des Krieges von einer jüdischen Familie, die deportiert worden war, übernommen hat – für so gut wie umsonst. Den Reparationsforderungen nach dem Krieg wollten sie aber nicht nachkommen, ganz im Gegenteil: Sie fanden, das Haus gehöre rechtmäßig ihnen, und ‚Juden‘ wollten es nun von ihnen stehlen. Wer da wen bestohlen hat, wurde völlig verdreht. Ich fand, dass sich da sehr viel vom Selbstverständnis der deutschen Bevölkerung in der Nachkriegszeit gezeigt hat.
Wurde KI oder ChatGPT zur Recherche verwendet? Oder anders gefragt: hätte KI-Einfluss auf Dein Schreiben?
Nein. Als ich anfing, vor gut fünf Jahren dieses Buch zu schreiben, war KI noch gar nicht präsent. Am Ende des Buches schlug mir eine Freundin vor, ich könnte das Glossar von einer KI schreiben lassen. Die Vorschläge waren interessant, aber auch nicht präzise genug. Da hätte ich mich länger mit der KI beschäftigen müssen, als einfach das Glossar schnell selbst zu schreiben.
Bestimmt gab es Erstleser, die das Manuskript lesen durften. Haben die Kritik geübt?
Freund*innen von mir, die sich weniger mit Literatur beschäftigen, haben den Text gelesen und fanden ihn meistens toll. Das war schön, aber ist auch nicht besonders hilfreich. Autor*innenfreunde wiederum haben mir vor allem in der letzten Phase des Schreibens sehr geholfen.
Wer ist Dein wichtigster Kritiker?
Hm, das ist man schon immer selbst.
Das Buch Unter Grund ist in der Öffentlichkeit sehr beachtet worden. Es gibt viele Rezensionen, und Du bist auch zu vielen Lesungen eingeladen. Haben Jugendliche darauf reagiert?
Jugendliche direkt eher weniger. Ich weiß, dass viele Mütter und Väter das Buch für ihre Töchter oder Söhnen kauft haben. Leute, die aus der Gegend kommen, in der Geschichte spielt, haben mir geschrieben, und ihre Sicht auf manche Vorfälle geschildert und so weitere „Puzzlesteine“ geliefert. Das hat mich sehr gefreut.
Mit welchem Schwerpunkt des Buches Unter Grund würdest Du in die Schulen gehen wollen?
Schon mit dem Schwerpunkt Aufklärung und Widerstandskraft gegen rechtes Gedankengut fördern. An den Schulen machen sich immer wieder rechte Kräfte an Schüler*innen ‘ran, und je mehr die Schüler*innen über die Machenschaften dieser Gruppen Bescheid wissen, desto besser sind sie vor ihnen geschützt.
Was bleibt Dir nach dem Schreiben?
Eigentlich war mir erst ganz am Ende klar, warum ich das Buch geschrieben habe, und worum es mir ganz persönlich ging: Vor allem um das Schweigen, und die Frage, wie es sich über Generationen fortsetzt. Und wie Familien mit Trauer umgehen, aber auch, wie unsere Gesellschaft mit Trauer umgeht. Ich arbeite gerade an einem Essay, den ich nur schreiben kann, weil ich davor meine Gedanken über die Arbeit am Roman sortiert habe.
Schreibst Du an einem neuen Buch?
Ja, es ist etwas im Entstehen. Aber ich will diesmal nicht von einem Thema ausgehen, sondern sehen, was entsteht. Auf jeden Fall richtet sich mein Blick diesmal eher in die Zukunft als in die Vergangenheit.
Anne, vielen Dank für Dein Engagement Bücher zu schreiben und vor allem so ein wichtiges Buch wie Unter Grund. Wie Du die Geschichte von Franka angehst und den blinden Fleck der Familie sichtbar machst, ist grandios. Trotz und wegen der aufwühlenden Geschichte hat Dein Schreibstil eine Sogwirkung, immer weiterzulesen.
Anne, ein beeindruckender Roman, und erst recht in dieser Zeit.
Vielen Dank für das Gespräch.
(c) Text Steffi M. Black
(c) Foto Daniela Pfeil
Annegret Liepold
Unter Grund
Blessing Verlag