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Gespräche



 30.07.2023 - Das Gespräch mit Anne Freytag 



Autorin Anne Freytag

Anne Freytag ist eine der großen und gefeierten deutschen All-Age-Stimmen.
Die Autorin Anne Freytag studierte International Management und arbeitete nach dem Abschluss als Grafikdesignerin und Desktop-Publisherin. Sie schreibt seither Erwachsenen- und All-Age-Romane. Für ihre Romane wurde sie mehrfach für Literaturpreise nominiert und damit ausgezeichnet–unter anderem dem Bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur. Darüber hinaus gibt es konkrete Pläne zur Verfilmung einzelner Werke.
Der aktuelle Roman von Anne Freytag MIND GAP ist im dtv Verlag erschienen.

Kleiner Einblick in das Buch MIND GAP:

Das ist eine überaus spannende Geschichte“, sagt Bechter und sieht mich herablassend an. „Nur das nichts davon stimmt.“
„Ich kann es beweisen“, sage ich. „Mein Bruder hat Daten über die Rechtsverstöße der Esec gesammelt. Ich bin im Besitz dieser Daten.“
„Wenn das stimmt, warum haben sie die nicht schon längst veröffentlicht?“, erwidert Bechter.
„Weil das unseriöser Journalismus wäre“, sage ich sachlich. „So arbeite ich nicht.“
Ich schlage das Bein über das andere. „Ausgewogene Berichtserstattung bedeutet, dass man der Gegenseite der Möglichkeit zur Stellungnahme gibt.“
„Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, dass ich diese haltlosen Anschuldigungen kommentieren werde.“
Ich lehne mich in meinen Sessel zurück.
„Was ist mit NIPTec?“, frage ich. „Wollen Sie sich vielleicht dazu äußern?“
Bechters Gesicht gefriert. „Was wissen Sie darüber?“, fragt er.
„Mehr als Sie denken.“
Sein Lächeln ist eisig. „Sie bluffen doch“, sagt er.
„NIPTec ist ein militärisches Forschungsprogramm, das ursprünglich darauf ausgelegt war, körperliche und emotionale Traumata von Esec-Soldaten und Agenten zu beheben. Es handelt sich um den Vorgänger des NINK“, sage ich. „Ich habe Videoaufnahmen von Erinnerungssequenzen und Akten, die das belegen. Die zeigen, dass die Esec* ihre Soldaten und Agenten sukzessive gechipt hat, um so auf ihr Denken und Handeln zugreifen zu können. Mein Bruder war einer von ihnen.“
Bechter nickte langsam.


Frau Freytag,
Sie haben viele Bücher geschrieben, Romane, Liebesromane, Jugendbücher. Jetzt im aktuellen Buch geht um den freien Willen des Einzelnen und um ein neues Wunderwerk der Digitalisierung des Gehirns mittels Chip-Implantierung. Doch was passiert, wenn der Fortschritt in falsche Hände gerät?
Ich halte immer noch den Atem an, wenn ich an die spannende Geschichte von Silvie denke und wie ich mich während des Lesens fragte, wie diese ausgehen wird, denn das menschliche Gehirn ist nun mit dem Internet verbunden.
In ihrem Roman MIND GAP ist Silvie Mankowitz Journalistin. Ihr Bruder soll zwei Menschen getötet haben und sich selbst, und ist dazu zweimal totgesagt. Plötzlich ist er am Telefon. Das will Silvie nicht glauben und geht der Sache nach. Sie gerät in den Trubel der Techno-Maschinerie NIPTec, ein militärisches Forschungsprogramm, an dem das Außenministerium nicht unbeteiligt ist.
Die Geschichte spielt in den 2030er Jahren, nahe Zukunft. Es ist eine Zeit, in der die Menschen gerne mit dem NINK leben, einem PicoChip, der in ihr Gehirn implantiert ist – ein Chip von der Größe eines Salzkorns, der als Smartphone-Ersatz dient. Die Bevölkerung wähnt sich in Freiheit. Die technische Revolution ist aus dem Leben der Menschen nicht wegzudenken.
Meine Neugierde stieg, je mehr Silvie in die Recherchen eintauchte und auf Widerstände stieß. Wie bewältigt sie ihr Leben und wie kommt sie aus dem Schlamassel raus?
Frau Freytag, was bewegte Sie, über die dunklen Seiten der Menschen zu schreiben?

Wir Menschen neigen dazu, in Gut und Böse einzuteilen. Wenn es grausames, brutales und unmoralisches Handeln ist, nennen wir nennen es unmenschlich – obwohl alles vom Menschen gemachte Handeln per Definition menschlich ist. Wir stellen es gern so dar, als wäre menschlich per se gut, doch es ist das Vollspektrum. Für mich war das Spannende an der Geschichte, dass etwas, was für eine Person heilvoll sein kann – zum Beispiel wieder laufen zu können, oder seine traumatische Kindheit auf Knopfdruck hinter sich zu lassen (das wäre grandios) – gleichzeitig Tür und Tor öffnet, um mit schlechter Absicht in genau derselben Sache negativ zu handeln. Ich finde es interessant, dass wir uns vor dem Fortschritt fürchten – oder fürchteten – zum Beispiel fliegen, elektronische Zahlungsmittel, Handy usw. – und jetzt, schaut man zurück, weiß man gar nicht mehr, wie das Leben ohne Handy war. Dieses Spannungsfeld ist ein Teil meiner Bücher. Dass es das eine ohne das andere nicht gibt.

Silvie Mankowitz will eine Story über den technischen Fortschritt schreiben, stößt aber auf massiven Widerstand und gerät in Lebensgefahr.

Haben Sie sich von dem bekannten Autor Ray Kurzweil leiten lassen, der in seinem Buch „Homo s@piens: Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen?“ von einer Menschheit schreibt, in der der Mensch nur mit Neuro-Implantaten mit den Robotern mithalten könne.
Nein, ich habe das Buch nicht gelesen.

Hätten die KI und Chat GPT Ihren Roman über die Menschen, die durch ein Chip-System ferngesteuert werden, auch so schreiben können?

Inhaltlich bestimmt, aber nicht so formuliert. Es gibt darüber viele Diskussionen, und viele haben Angst davor – und ich muss zugeben, ein Teil von mir auch. Aber auf der anderen Seite haben sich viele künstlerische Bereiche durch Technik, und das ist ja nichts anderes jetzt mit der KI, weiterentwickelt. Ich glaube, dass man mit Chat GPT ganz spannend plotten könnte – einem halb-intelligenten Gegenspieler, der das bereits Dagewesene mit einbringt.

Wie ist der Titel „MIND GAP“ entstanden?

Das ist eine gute Frage. Ich wollte einen Titel, der nicht verrät, dass Menschen von außen manipuliert und gesteuert werden. Aber wie er genau entstanden ist, weiß ich gar nicht mehr, er war einfach da und hat mir gefallen.

Wie sahen dafür Ihre Recherchen aus?

Ich habe viele Dokus angeschaut, Bücher und Fachliteratur gelesen. Außerdem konnte ich jemandem, der im Sicherheitsdienst arbeitet, gezielt Fragen stellen. Ein Bekannter von mir arbeitet in einer Bank mit Hochsicherheits-Systemen – den konnte ich auch dieses oder jenes fragen. Es gab viele kleine Bereiche, die ineinandergriffen – eine Doku über Content-Moderatoren in ARTE, Reisen auf den Philippinen, Gespräche mit Freunden über den technischen Fortschritt.

Anders als bei Schauspielern, die nur eine Rolle besetzen, nimmt der Autor, die Autorin mehrere ein. Wie schaffen Sie den Charakterwechsel der Protagonisten in MIND GAP?

Für mich ist es einfach, mich in andere Menschen hineinzuversetzen. Ich kann mich in Ereignisse – oder Situationen – einfühlen, obwohl ich sie nicht erlebt habe. Ich habe das Gefühl, dass es die Figuren sind, die sich mir nach kurzer Zeit öffnen und mir zeigen, wer sie sind, und das fülle ich aus.

Würden Sie heute das Buch anders schreiben? Im Nachwort des Buches schreiben Sie, dass der Roman für Sie sehr herausfordernd war. Die Realität hat sich in den virtuellen Raum verlagert
.
Ich habe lange überlegt, ob Silvies Bruder eine aktivere Rolle spielen könnte, aber das hätte den Roman massiv verändert. Ich mag die Geschichte wie sie ist.

Frau Freytag, bei einem Buch, in dem Menschen mit Chip-Implantaten leben, drängt sich die Frage auf, wenn es die Möglichkeit gäbe, Chips ins Gehirn implantieren zu lassen, würden Sie es an sich zulassen?
Ich bin nicht eine der ersten, die Innovationen verfallen, obwohl ich Technik faszinierend und toll finde. Da ich mich damit beschäftigt habe, würde ich es heute natürlich hinterfragen. Ob ich mich aber letzten Endes dauerhaft, wenn sich die Welt in diese Richtung entwickeln würde, dem entziehen könnte, weiß ich nicht. Ich würde gern Ja sagen, aber vermutlich stimmt das nicht. Wir sind Herdentiere.

Es tauchen unter anderem zwei Persönlichkeiten auf, die als Rivalen um die Kanzlerschaft buhlen. Das kommt einem bekannt vor. Haben Sie an bestimmte Politiker gedacht?
Tatsächlich nicht, aber wenn man sich das politische Parkett anschaut, und mit wieviel Unsicherheit die Menschen heutzutage konfrontiert werden, weil einige Politiker gezielt mit Ängsten spielen, kommt einem einiges bekannt vor.

Sind die Namen ihrer ProtagonistInnen zufällig gewählt? Wie der von der Journalistin Silvie Mankowitz, oder die IT-lerin Mayari Morales, deren Job es ist, in den Sozialen Medien zu wühlen und prüfen, was als potenziell gefährlich eingestuft werden muss?

Ich kann die Geschichte erst schreiben, wenn der Name zur Person passt. Bei Silvie war das für mich ganz schnell klar. Die Namen müssen zusammengehen, die Figuren müssen sie ‚gern tragen‘, eins damit sein. Der Nachname Morales beispielsweise ist einer der Top-Nachnamen auf den Philippinen, dass er zu Mayaris Rolle passt, ist ein schöner Zufall.

Sie sind im Buch sehr erbost, wie die Meinungsfreiheit und der Journalismus geschnitten werden. Wie hat die Presse auf Ihr Buch reagiert?

Wirklich gut. Die, die das Buch besprochen haben, sind sehr mitgegangen, und das hat mich gefreut. Jemand nannte den Roman, ‚ein sehr gut geschriebenes Horrorszenario‘. Ich möchte ja auch, dass die Leserenden das Buch spannend finden und es nicht aus der Hand legen können. Wenn mir das gelingt, bin ich glücklich. Wenn dann auch noch etwas nachhallt und zum Nachdenken anregt, noch mehr.

Genial finde ich den inneren Klappentext des Buches. Wenn es nicht so zynisch wäre, wäre unser Leben so brillant. Die Krankenkassen werben für die Implantation von NINK und versprechen sorgenfreies Leben. Teilen Sie die Illusion?

Ich glaube, wir Menschen lassen uns gerne täuschen und verführen. Wir wollen Anerkennung, wir wollen gesehen werden, Teil von etwas sein. Ich glaube, dass wir Menschen eine Tendenz haben, solche Dinge zu glauben. Wir wollen das glauben. Auf der anderen Seite sind wir misstrauisch. Ja, der Klappentext des Buchs ist ein Augenzwinkern.

Frau Freytag, Sie werden weiterschreiben. Und wie der Titel Ihres Romans MIND GAP ja schon darauf hinweist – Gib Acht! – warnen Sie uns vor düsteren Machenschaften. Umso neugieriger sind wir Leserinnen und Leser auf Ihr nächstes Buch „Vom Mond aus betrachtet, spielt das keine Rolle“. Vielen Dank für das Gespräch.

© Steffi.M.Black 2023 (Text)
© Studio Tasca(Bild)