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Gespräche



 04.12.2021 - Das Gespräch mit Thomas Kraft 



Autor Dr. Thomas Kraft

Thomas Kraft ist Schriftsteller, Literaturkritiker, Programmleiter der Münchner Bücherschau und Kulturmanager von Literatur-Festivals. Im Maro Verlag Augsburg erschienen von Thomas Kraft die Biographie über Leonard Cohen: „Cohen“, der Erzählband „Tomaten aus Tulsa“ und der geheimnisvolle Roman „Alles Tarnung“. Sein neuestes Buch „Zeit der Narben“ ist im CONTE Verlag erschienen.

„Zeit der Narben“ - Ein packender Spannungs-Roman zwischen der Vergangenheit und jetzt. Auf den Spuren des Kolonialismus reisen die Journalistin Paula und ihr Kollege Stefano für Filmarbeiten nach Ghana. Dass dort ein gemeinsamer Schulfreund lebt, der im Diplomatischen Dienst ist und beide einlädt, erleichtert ihren Aufenthalt, und sie können unbekümmert berüchtigte Orte des Sklavenhandels an der Goldküste aufsuchen, dachten sie
Aus dem Klappentext: Bei einer Recherchereise durch Ghana stößt die Journalistin und Kamerafrau Paula auf die Geschichte einer deutschen Fliegerin, die im Zweiten Weltkrieg dazu beitrug, dass junge Piloten sinnlos geopfert wurden. Paula stellt die Verbindung zu ihrer eigenen Familiengeschichte her, dem Fliegertod des Großvaters. Paulas Spurensuche führt sie am Ende wieder nach Berlin, wo mit der deutschen Kolonialgeschichte durch die preußischen Sklavenhändler alles begann. Wo die letzte Schlacht des Zweiten Weltkrieges tobte. Und wo heute Wirtschaftsführer die erneute Kolonialisierung Afrikas planen. Drei Freunde begleiten Paula und beschützen sie, denn mit ihren Nachforschungen provoziert sie heftige Reaktionen und Paula muss fortan um ihr Leben fürchten …

und da kommt auch die hiesige Realität auf sie zu. In Berlin bleibt die Konfrontation mit der rechten Szene nicht aus. Herr Kraft, das sind Begegnungen, vor denen sich der Bürger fürchtet. Das ist krass, oder?

Ich glaube, dass solche Begegnungen jederzeit passieren können. Aber diese Begegnungen sind an das Filmprojekt der Journalisten gebunden, und damit stechen sie sprichwörtlich in ein Wespennest. Zuerst in den Begegnungen mit den Neonazis und später mit dem Mann im Hintergrund, dem Industriellen, das ist ja nicht unser Alltag. Wir wissen durch die Medien, dass sich eine neue Rechte organisiert hat, die nicht mehr mit Springerstiefeln und Bomberjacken durch die Straße läuft.

War die Konfrontation mit den Neonazis ein Stilmittel oder gehört das zum Kern der Story?
Das gehört zum Kern. Es geht im Roman, verkürzt gesagt, um alte und neue Nazis. Die Fliegerin Hanna Reitsch war eine nationale Ikone, und sie wird nun von einer neuen Rechten instrumentalisiert, die versucht, Ikonen der Vergangenheit wie eben Hanna Reitsch zu reaktivieren. Sie ist weiblich, sie war mutig und sportlich und sie hat unbestritten Verdienste (unter Fliegern) und hielt viele Rekorde. So kann man jenseits der Ideologie jemanden hervorholen und sagen – guck mal, das sind doch Vorbilder, sie war eine von denen, die etwas für Deutschlands Größe getan haben, und an diesen Werten sollte man sich orientieren.

Das Buch ist ein Roman, aber gleichzeitig ein packender Krimi und geizt nicht mit Überraschungen. Wie aufregend war es für Sie, dieses Buch zu schreiben?

Sehr aufregend, weil ich vor Jahren in dem Land war und mir die Szenerie wieder ins Gedächtnis kam. Bei der Reise in Ghana hatte ich die Kolonialgeschichte wahrgenommen, aber ich hatte damals überhaupt nicht die Absicht, einen Roman darüber zu schreiben. Zu der Zeit wusste ich kaum etwas über Hanna Reitsch, und dass sie in Ghana eine Rolle gespielt hat.

Wie entdeckten Sie die Fliegerin?

Als ich für den Verlag Langen-Müller tätig war, entdeckte ich im Regal mit den Belegexemplaren einige Bände von Hanna Reitsch, und ein Titel hieß „Ich flog in Afrika für Nkrumahs Ghana“. Gemeint ist der frühere Diktator. Seinen Namen hatte ich auf unserr Reise mitbekommen und wurde jetzt neugierig. Ich las das Buch. Dann fing ich an zu recherchieren und wollte alles wissen, über den historische Hintergrund und auch über das Leben von Hanna Reitsch, die bis heute in bestimmten Kreisen nicht vergessen ist.

Waren Sie auch vor Ort und haben sich die Wirkungsstätte von Hanna Reitsch angeschaut?

Da ist nichts mehr, die Segelflugschule existiert nicht mehr. Die Botschaft in Ghana bestätigte, dass aus dem Leben von Hanna Reitsch nichts mehr vorhanden ist. Dafür recherchierte ich auf Usedom, in Peenemünde, wo Wissenschaftler unter der Leitung von Wernher von Braun in einer Heeresversuchsanstalt alle möglichen Kriegswaffen entwickelten und testeten.

Der Leser, die Leserin werden entführt zu Örtlichkeiten in einem so fremden Land. Wie fremd ist das für Sie?
Ghana war mir damals ganz neu. Ich wusste auch nichts über seine Kolonialgeschichte. In der Schule blieb dieses Kapitel deutscher Geschichte unberührt. Was ich extrem bedauerlich finde. Ich habe damals nichts darüber gelernt, auch nie erfahren, dass die Preußen vor Ort waren.

Wann entschlossen Sie sich zu diesem Buch?
Irgendwann hatte ich so viel Material. Da musste ich mich entscheiden: ein Sachbuch über Hanna Reitsch und die Neue Rechte oder einen Roman. Die Reise damals nach Ghana war schon etwas Besonderes gewesen. Im Hinterkopf war die Reise bis heute immer präsent. Ich interessiere mich sowieso für historisch-politische Themen. So begann ich meinen Stoff auszuarbeiten und stellte fest, dass sich für den Erzählkomplex Ghana und Hanna Reitsch bislang noch niemand interessiert hat.

Und wie ist der Titel „Zeit der Narben“ entstanden?

Ich hatte zuerst einen anderen Titel ausgesucht: „Trockenzeit“. Der gefiel dem Verlag nicht so sehr. Da es in diesem Roman auch über eine Familiengeschichte geht, die tatsächlich einen realen Hintergrund hat, in der Kriegstraumata über Generation hinweg vererbt worden sind und eine wichtige Rolle spielen, sind es die Narben auf der Seele, die dem Roman seinen Titel geben.

Ein kleiner Einblick ins Buch:

Paula riecht Afrika und wundert sich, wer hier alles eine Pistole im Haus hat.
Die salzige Luft vermischt sich mit milchigem Dunst und dem Staub der Straßenpisten. In Accra, diesem riesigen Kaufhaus ohne Fenster und Türen, steht jeder und jede im Stau und bläst sich die Abgase in die Augen.
Ich mache Schnappschüsse mit meiner silberroten South Beach und lasse auch immer wieder die Handkamera laufen.
„Du musst noch einen Speicher für Gerüche einrichten. Neben der Tonspur“ sagt Stefano. „Sonst wird das Bild nicht vollständig."
Stefano leckt sich die Lippen, jedes Meer schmeckt anders. Bratbeutel oder luftdicht zu verschließende Blechdosen, so Stefano weiter, all das würde nur behelfsmäßig funktionieren. Irgendwann reagieren die Moleküle und alles zerfällt.
„Man müsste den Geruch synthetisch herstellen, sage ich.
„Wie Parfüm. Aber wer will das schon?“
„Vielleicht Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen“, erwidert Stefano. ! Mich würde es nicht wundern, wenn das Jemand als Geschäftsidee aufgreift“.
Wir sind zu Richards Haus in Norh Ridge unterwegs. Das Diplomatenviertel liegt im Süden unweit des Wassers. Auf mich wirkt Accra nicht wie ein Ort der Architektur, eher wie eine Ansammlung aus Bretterbuden und unverputzten Mauern, Garküchen und Marktständen. Ich sehe keine Fahrbahnmarkierung und keine Verkehrsschilder. Und offensichtlich gibt keine Regeln, nachdem gefahren wird.
Wir erzählen Richard von unserem Projekt. Ein Film in der Reihe Spurensuche, vorgesehen für das Nachtprogramm des Senders. Untertitel: Ghana-Koloniales Erbe und moderne Politik. Ich liefere die Bilder. Stefano ist der Intellektuelle von uns beiden und hat einen vorläufigen Plan. Er will die Sklavenforts an der Küste besuchen, auch den Drehort von Cobra Verde, die Ölfelder vor Takoradi und vielleicht Firmen unter deutscher Führung.



Wie stark ist in diesem Buch literarische Freiheit mit der jetzigen Realität verzahnt? Die rechte Szene ist sehr aktiv.
Natürlich. Ich denke, alles was ich über die rechte Szene geschrieben habe und auch über die Kolonialgeschichte, ist Fakt. Das ist gegeben, das ist vielfach dokumentiert und belegt. Die erzählerischen Freiheiten entstanden natürlich, um Situationen ausmalen, Personen und Vorgänge in Szene zu setzen.

Hanna Reitsch, berühmt durch ihren Ruf als „Hitlers Fliegerin“, baute noch 1960 in Ghana eine Segelflugschule auf, und in „Zeit der Narben“ erinnern sich nicht wenige Leute, in Ghana wie auch in Berlin, mit einem Lächeln auf dem Gesicht an die Fliegerin. Da Paulas Großvater im Krieg einen sinnlosen Fliegertod starb, sieht sie die Begeisterung sehr kritisch. Herr Kraft, haben eine Liebe zum Fliegen?
Nein, eher schon Flugangst.

In den Regalen der Münchner Stadtbibliothek stehen Ihre Bücher. Die Bibs sind so organisiert, dass die Pandemie niemand daran hindert, Ihr Buch „Zeit der Narben“ auszuleihen. Was wird das nächste Buch sein?
Nach dem Roman ist mittlerweile ein weiteres Buch erschienen: „Rock´n´Read. Wie die Literatur die Rockmusik inspiriert“. Das nächste Buch kommt im Frühjahr 2022: „The last DJs“. Vierzig Interviews mit wichtigen europäischen Radio-DJs. Thomas Gottschalk hat das Vorwort dazu geschrieben.

Erscheinen die auch im Conte Verlag?

„Rock´n´ Read“ ist im Verlag Andreas Reiffer erschienen, „The Last DJs“ erscheint im Verlag Starfruit Productions.

Trotz Pandemie kennt das Lesen keine Viren. Wir freuen uns auf weitere spannende Publikationen von Ihnen. Lieber Thomas Kraft, vielen Dank für das Gespräch.

Die Lesung im Literaturhaus
ist leider abgesagt.

FR 10.12. // 20 Uhr // Bibliothek
»ZEIT DER NARBEN«
LESUNG MIT THOMAS KRAFT
Moderation: Gert Heidenreich



©Steffi.M.Black 2021(Text)
©Catherina Hess(Bild)