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Gespräche



 04.09.2021 - Das Gespräch mit Heidi Rehn 



Schriftstellerin Heidi Rehn

Heidi Rehn ist Schriftstellerin und hat viele historische Romane verfasst und sie reist gerne zu den Schauplätzen ihrer Bücher. Für den Roman „Die Liebe der Baumeisterin" (im Knaur Verlag) bekam sie den Literaturpreis „GOLDENEN HOMER" für den besten historischen Beziehungs- und Gesellschaftsroman. Es folgten weitere Bücher und spannende München-Romane aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Roman „Das Haus der schönen Dinge“ erlebt ein Münchner Warenhaus den Aufstieg und Fall seiner Warenhaus-Dynastie.
Das neueste Buch von Heidi Rehn „Vor Frauen wird gewarnt. Vicki Baum – eine Frau auf dem Weg nach oben" (Knaur Verlag) ist eine Romanbiographie der beliebten Schriftstellerin der 1920/30er Jahre.


Frau Rehn, Hut ab vor Ihrer Schaffenskraft und Hut ab zum Roman „Vor Frauen wird gewarnt“ (KnaurVerlag). Es ist eine Romanbiographie über Vicki Baum, wie sie von der Redakteurin zur berühmten Schriftstellerin wurde. Und es geht auch um eine eigenständige, selbstbewusste Frau in den 1920er Jahren, die Mann und Söhne alleine lässt, um in Berlin beim Ullstein Verlag als Redakteurin zu arbeiten. Heute sagt man Emanzipation dazu. War Vicki Baum eine Ausnahme in ihrer Zeit?
Auf jeden Fall. Wir erleben in den 1920er Jahren zwar mit der Einführung des Frauenwahlrechts einen enormen Schub in der Frauenemanzipation. In der Weimarer Republik bricht dann auch das Zeitalter der neuen, modernen, selbstbewussten Frau an. Vicki Baum war jedoch insofern eine Ausnahme, als sie für diese Entwicklung nach damaligen Vorstellungen eigentlich schon zu alt war. Als sie nach Berlin ging, war sie bereits 38, zudem verheiratet und Mutter zweier Kinder. Ein eigenständiges Berufsleben, noch dazu ein Neustart aus Karrieregründen allein in einer anderen Stadt war unter diesen Umständen äußerst selten.

Wann ist Ihnen Vicki Baum als Schriftstellerin das erste Mal begegnet?

Irgendwann in meiner Jugend in diesen Leseclub-Ausgaben, die Omas und Tanten in ihren Regalen stehen hatten. Wenn ich mich denen näherte, riefen sie entsetzt: „Kind, das ist doch keine Literatur!“ Das machte mich stutzig. Warum sollte das keine Literatur sein? Die Bücher wurden ja von ihnen selbst mit größtem Vergnügen gelesen. Also war meine Neugier geweckt und ich las die Romane daraufhin erst recht und habe so eine tolle Autorin für mich entdeckt.

Und das hat Sie zu dieser Biographie inspiriert?
Die Idee mit der Romanbiographie liegt viele Jahre zurück. Es war immer schon mein Traum, einmal etwas über Vicki Baum zu schreiben. Neben ihren Romanen hat mich auch sie selbst recht bald sehr interessiert. Zurzeit sind Frauenbiographien gefragt. Ich habe vor kurzem über Erika Mann eine Romanbiographie geschrieben, und da meine Lektorin vom Knaur Verlag weiß, dass ich ein großer Fan von Vicki Baum bin, hat sie mich gebeten, über sie zuschreiben.

Wie planen Sie voraus, ab wenn ein Thema feststeht, und Sie sich ans Schreiben machen können?

Zuerst heißt es immer lesen, recherchieren und Material suchen, bis sich irgendwann eine Geschichte daraus formt. Mir wurde bald klar, dass ich nicht über Vicki Baums gesamtes Leben schreiben kann. Sie hatte verschiedene Lebensphasen, die in sich abgeschlossen waren. Ich fand ihre Berliner Jahre im Ullstein Verlag am prägnantesten, weil sie in der Zeit zu der Vicki Baum wurde, die wir bis heute kennen. Außerdem ist die zweite Hälfte der 1920er Jahre in Berlin eine mehr als aufregende Epoche. Deshalb habe mich für diese Zeitspanne entschieden.

„Vor Frauen wird gewarnt. Vicki Baum - eine Frau auf dem Weg nach oben“ – ein Buch, das überfällig ist, um eine engagierte Schriftstellerin dem Vergessen zu entreißen. Sehr eindrucksvoll von Ihnen geschrieben. Man erlebt Vicki Baums Aufstieg als Karrierefrau. Mit ihren Artikeln und Romanen war sie erfolgreich, dabei war sie ausgebildete Harfenistin und wurde dann eine Erfolgsautorin für den Ullstein Verlag. War das ein geradliniger Aufstieg oder anderes gefragt – konfliktfrei?
Nein, sicher nicht. Die Ausbildung zur Harfenistin hat sie auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter absolviert, denn der war klar, dass Vicki mit einer eigenen Ausbildung nicht von einem Mann abhängig sein würde. In ihrer ersten Ehe war sie mit dem Schriftsteller Max Prels verheiratet. Sie schrieb die Artikel für seine Literaturzeitschrift unter seinem Namen, da er es nicht schaffte, Termine einzuhalten, sondern lieber in der Wiener Literaturszene das Leben eines Bohemiens führte. Die Ehe ging schief, Vicki hat sich scheiden lassen, was zu der Zeit - 1913 – mehr als ungewöhnlich war. Danach spielte sie als Harfenistin in einem Orchester, kam über einen Schüler nach Darmstadt, wo sie ihren zweiten Mann kennenlernte, heiratete und zwei Söhne gebar. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte sie mit dem Schreiben mehr oder weniger die Familie durch, denn sie verdiente damit bald mehr Geld als ihr Mann als Dirigent. Sie hatte nicht geradlinig ihre Schriftsteller-Karriere geplant, aber über Umwege erzielte sie einen enormen Erfolg.

Alle Seelen sind verletzlich. Sie gehen feinfühlig mit Ihrer Protagonistin um. Wäre Vicki Baum heute auch eine Erfolgsautorin?

In jedem Fall. Vicki Baum besitzt ein bewundernswertes Talent, Menschen darzustellen, Charaktere treffend zu erfassen. Ihre Beobachtungsgabe ist grandios, gewürzt mit genau dem richtigen Schuss Ironie. Sie versteht es außerdem, Themen anzupacken, die Menschen bewegen. Damit würde sie sich auch heute noch eine große Leserschaft erobern. Außerdem bin ich überzeugt, dass Vicki Baum die Social Media-Kanäle bravourös beherrschen würde. Alles beste Voraussetzungen, um die Bestsellerlisten zu stürmen.

Was macht eine Vicki Baum aus?
Eigentlich das, was ich eben bereits gesagt habe: ihre enorme Empathie für ihre Figuren und Mitmenschen. Sie stellt niemanden bloß. Und sich selbst gegenüber besitzt sie ausreichend Distanz und Selbstironie.

Vicki Baum wurde als Unterhaltungsautorin gehandelt, dabei haben ihre Romane einen tiefen Hintergrund und drücken das Lebensgefühl der neuen Frau mit ihrem Leid und ihren Sehnsüchten aus. In Ihrem Buch „Vor Frauen wird gewarnt“ geht es um die Jahre von 1926 bis 1932. Wurden der Ullstein Verlag und seine Mitarbeiter in der aufkeimenden Zeit des Nationalsozialismus vom Nazi-Pöbeleien verschont? Im Roman taucht davon wenig auf.

Natürlich kam es immer wieder zu Übergriffen, auch dort. Das kommt auch im Roman zur Sprache, aber es passierte eben nicht jeden Tag und bestimmte (noch) nicht den Alltag. Gerade gegen Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre spitzte sich die Lage jedoch zu. Wenn es Saalschlachten oder Proteste gab, waren diese allerdings nicht wie heute ständig großes Thema in den Medien. Man sprach auch nicht so viel darüber, weil man sich noch nicht bewusst war, in welche Katastrophe das einmal münden würde. Vicki Baum selbst war Jüdin und verkehrte in Kreisen, die von jüdischen Intellektuellen und Künstlern dominiert waren. Dennoch schrieb sie später in ihren Memoiren, dass sie sich der Gefahr erschreckend wenig bewusst war, sie völlig falsch einschätzte und die Zwischenfälle oft leichtsinnig ignorierte oder nicht wahrhaben wollte. Genau das wollte ich auch im Roman zeigen.

Vickis Baums Nachbar in Berlin war der Schriftsteller und Revolutionär Ernst Toller, und er wird für sie ein wichtiger Gesprächspartner. Sie diskutieren übers Schreiben und Tollers Gefängniszeit. Ernst Tollers Einstellung: Schreibend lässt sich eine Welt entwerfen, in der sich die katastrophalen Zustände zum Besseren, Gerechteren und Friedlicheren wandeln. Worte sind die besseren Waffen. War das auch Vicki Baums Maxime?

Vicki Baum hat sich im Gegensatz zu ihm nicht als politisch empfunden. Sie spricht mit ihm darüber, aber sie hat nicht für sich in Anspruch genommen, dass sie mit Worten wie mit Waffen droht, denn sie wollte niemanden angreifen. Sie hat immer behauptet, sie sei keine politische Autorin.

Frau Rehn, Sie sind auch sehr erfolgreich mit Ihren Büchern. Kann man Ihren Status als Schriftstellerin mit dem der Vicki Baum vergleichen?
Vicki Baum ist für mich seit vielen Jahren ein Vorbild, aber ich würde mir niemals anmaßen, mich mit ihr auf eine Stufe zu stellen. Natürlich träumt jede Autorin/jeder Autor von einer solchen Kampagne, wie Vicki Baum sie damals von Seiten des Ullstein Verlages für ihre Bücher erlebt hat.

Einige Vicki Baum-Romane wurden verfilmt. Sehr bekannt ist die Verfilmung von „Menschen im Hotel“. Damals in den 1930er Jahren mit Greta Garbo, nach dem Krieg auch mit O.W.Fischer und Sonja Ziemann.
Frau Rehn, jedes Buch von Ihnen ist auch eine aufregende Geschichte. Sind auch Titel von Ihnen verfilmt worden?

Die Auswahl ist groß, aber leider ist bis heute kein Titel verfilmt worden.

Ihr Buch über Vicki Baum verspricht als Film grandios zu sein.!
Danke! Hoffentlich lesen das jetzt einige Produzenten ...


Vicki Baum trägt Budapester Schuhe. Ist das eine besondere Schuhform?
Budapester Schuhe sind eine bestimmte Art von geschnürten Halbschuhen vor allem in der Herren-, aber auch der Damenmode. Prägnant ist daran vor allem das Lochmuster vorn auf der Kappe. Im Roman kommen sie vor allem bei Vickis Kolleginnen vor, weil in den 1920er Jahren viele Elemente aus der Herrenmode in der Damenmode übernommen wurden. Damit wurde der androgyne Stil unterstrichen, die Geschlechtergrenzen verwischt.

Frau Rehn, beliebt sind Ihre Romanspaziergänge »Auf den Spuren von ...«, mit denen man Münchner Geschichte literarisch erleben kann. Die Pandemie hat sie in letzter Zeit vereitelt, aber jetzt geht es wieder los. Näheres kann man auf Ihrer Webseite
https://www.heidi-rehn.de/streifzug-html erfahren und sich dort anmelden.
Wird Emil Graf auch dabei sein? Er ist der Kommissar in Ihrem Krimi „Das doppelte Gesicht“. Ein super spannender Kriminalroman, München 1945, in der Nachkriegszeit. Eine Reporterin kehrt aus dem Exil zurück, sie will einen Kriegsheimkehrer interviewen, sucht ihn in der zerstörten Stadt, trifft ihn aber leider nicht mehr lebendig an. Mehr möchte ich nicht verraten. Wird der sympathische Kommissar weiter ermitteln?

Ja natürlich, Emil Graf und die Reporterin Billa Löwenfeld werden sogar ein Ermittler-Duo. Im November 2021 erscheint der zweite Emil Graf-Band unter dem Titel „Die letzte Schuld“.
Dazu habe ich neue Romanspaziergänge, die ich »Auf den Spuren von München in der Besatzungszeit« nenne. Dabei geht es mir darum, den Hintergrund jener Jahre unmittelbar nach Kriegsende und vor Gründung der Bundesrepublik aufzuzeigen: wo saßen die Amerikaner, welche Gebäude hatten welche Funktion? Wie war das Leben organisiert usw.
Die nächsten Termine sind Sonntag, 05.September und 10.Oktober 2021.
Näheres auch unter https://www.heidi-rehn.de/streifzug.html

Zum Spaziergang – sollte man/frau die Bücher vorher gelesen haben?
Nein. Die Idee ist, vor allem Hintergrund- und ergänzende Informationen zu liefern, unabhängig vom Romangeschehen. Bei den Spaziergängen lese ich einige Ausschnitte aus den Romanen, um einen Eindruck davon zu vermitteln und Lust aufs Selberlesen zu wecken.

Es ist nicht lange her, da kam Ihr Buch „Das Lichtspielhaus, wie alles begann“ in die Buchhandlungen. Sie haben einen historischen Roman über die Geschichte der Kinos geschrieben. Dieses Buch ist auch ein tolles Zeitbild. Zum Glück stirbt die Kinokultur nicht ganz aus. Aber haben wir Leser den Titel „Zeit der Entscheidung“. verpasst? Ist das ein zweiter Band vom „Lichtspielhaus“?
Nein, der zweite Band wurde zwar bereits angekündigt, aus verschiedenen Gründen aber bislang verschoben. Wann er erscheint, ist noch absolut offen. Derzeit ist er auf Eis gelegt, wie es so schön heißt.

Und was hat es mit dem „Mordsgipfel“ auf sich?

Das ist eine Krimianthologie mit Beiträgen verschiedenster, sehr interessanter Kolleg:Innen, die im November im Verlag »Tingeltangel« erscheinen wird. Der ist schwerpunktmäßig auf Literatur zu Bayern spezialisiert. Ich wurde eingeladen, eine Geschichte quasi als „Schmankerl“ mit Emil Graf und Billa beizusteuern. Sie hat einen ganz besonderen Berggipfel als Ausgangspunkt. Lassen Sie sich überraschen.

Ist es wichtig für einen Schriftsteller, Testleser zu haben? Wer wählt diese aus? Macht das der Verlag?

Meine Testleser wähle ich selbst aus. Ob viele Leute mein Manuskript lesen, entscheidet das Bauchgefühl, denn das ist eine sehr große Vertrauenssache. Natürlich liest meine Agentin den Text, zudem habe ich eine Freundin, die seit Jahren alle meine Manuskripte liest, bevor ich sie an den Verlag gebe. Darüber hinaus entscheide ich je nach Situation und auch Zeitkorsett, ob es noch weitere Testleser:Innen gibt. Begeisterung alleine reicht mir nicht, ich brauche konstruktives Lesen, d.h. man muss mir ganz ehrlich sagen, was stimmt und was nicht stimmt, ob Handlungen oder Personen zu verstehen sind, es überhaupt spannend oder interessant ist.

Wieviel geben Sie in Ihren Büchern von sich preis?

Oh, sicher mehr, als mir bewusst ist. Wenn ich Vicki Baums Geschichte erzähle, ist es mein Blick auf sie. Ich gebe viel von mir preis, in dem ich erzähle, was mir an ihr wichtig ist.

Es gibt immer noch die Perry Rhodan-Hefte. Perry Rhodan ist der Titelheld der gleichnamigen Science-Fiction Serie. Würde es Sie reizen, auch wie Ihre Schriftsteller-kollegen Tanja Kinkel und Titus Müller als Gastautorin auch ein P.R. Heft zu schreiben?
Für mich hätte das wenig Sinn, denn ich bin keine Perry Rhodan-Leserin und nicht in dieser Welt zu Hause.

Wenn man Schriftsteller fragt, an was sie zur Zeit schreiben, sind sie oft verschlossen und weichen der Frage aus. Wie sollen wir neugierige Leser uns verhalten?
Eigentlich ist es sehr schön fürs Schriftsteller:Innen-Ego, gefragt zu werden, an was man jetzt gerade schreibt. Das beweist ja das Interesse an einem. Doch natürlich hüllt man sich gerne in Schweigen, weil alles noch im Werden ist. Also, ich fühle mich sehr geschmeichelt von der Nachfrage.

Gerne, aber eine Antwort ist das nicht?

Sagen wir mal so, ich schreibe wieder an einem sehr schönen München-Roman, der in der für mich typischen und mir sehr wichtigen Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts spielt und dieses Mal ganz besondere Orte schildert, die Leser:Innen sicher über alles lieben.

Frau Rehn, bitte erfreuen Sie uns Leserinnen und Leser weiterhin mit spannenden Romanen gemäß Ihrem Motto »Erzählen, wie es gewesen sein könnte« und mit vielen Lesungen, wo man Sie auch persönlich kennen lernen kann. Vielen Dank für das Gespräch.


©Steffi.M.Black 2021(Text)
©Susie Knoll(Bild)