Gespräche
15.07.2020 - Das Gespräch mit Stefan Wimmer
Autor Stefan Wimmer
Stefan Wimmer ist Schriftsteller und Journalist. Er schreibt auch Reportagen und macht Features für die ARD und das ZDF. 2010 erhielt er den Deutschen Radiopreis. Sein neuestes Buch: Die 12 Leidensstationen nach Pasing ist im Heyne Verlag erschienen. Heute lebt Stefan Wimmer in München und Spanien.
Hallo Stefan,
nach Deinem erfolgreichen und tollen Roman Der König von Mexiko, in dem ein Münchner eine Zeit in Mexiko lebt, und versucht mit der heimischen Lebenskultur standzuhalten, ist jetzt im Heyne Verlag Dein Roman Die 12 Leidensstationen nach Pasing rausgekommen. Er ist gewagt, aber sehr vergnüglich zum Lesen. Es ist die Geschichte von Schulfreunden, die sich in den 1980ern als die "Kajal-Clique“ bezeichneten, immer auf der Suche nach PPP (Party, Petting, Punkmusik), ihr Revier war Pasing. Im Vorspann des Buches wird darauf hingewiesen, dass dieses Buch ein Roman ist: Alles was darinsteht, ist erfunden, auch wenn es sich so oder so ähnlich zugetragen haben könnte. Woher hast Du die Fantasie für diesen Roman genommen?
Die Sachen, die ich schreibe, haben immer ein realistisches Substrat. Ausgangspunkt ist, dass ich all die Jahre viel Tagebuch geführt habe. Mit diesem Material arbeite ich dann frei, und knete meine Figuren und Handlungen zusammen. Circa 60 Prozent sind Phantasie. Der Hauptgrund meines Schreibens besteht im Grunde darin, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen, all die wunderschönen bis entsetzlichen, lächerlichen bis saukomischen Dinge, damit sie nicht den Fluss des Vergessens hinabschwimmen.
Deine Art zu schreiben ist mitreißend. Wie erging es Dir beim Schreiben dieses Romans?
Das ist wie ein riesiges Abenteuer. Ich habe Die 12 Leidensstationen nach Pasing in einer Hängematte in Mexiko geschrieben, acht Monate lang, von morgens um 7 bis abends um 18 Uhr, mit ausgiebigen Tacos-Imbissen. Die ganze Zeit, während ich in dieser Hängematte lag, habe ich mich geistig nach Pasing „zurückgebeamt“. Mit jedem Tag und jeder Woche sind die Dinge lebendiger geworden, und mir kamen immer mehr Witze von damals zugeflogen. Das war ein wunderschönes Erlebnis, wieder in die Vergangenheit einzutauchen.
Ist die Selbstironie im Buch ein Schutz oder eher als Schreibstil willkommen?
Selbstironie ist eine meiner Lebensphilosophien: Die Dinge allgemein und insbesondere sich selbst nicht zu ernst nehmen! Ich mache mich in meinen Büchern über alle möglichen Leute und Persönlichkeiten lustig, da muss man sich selbst natürlich doppelt so viel durch den Kakao ziehen, damit es ausgewogen ist.
Bestimmt hast Du für das Buch die wichtigsten Stationen recherchiert. Es war ein heißer Sommer damals in den 1980ern. Das ist lange her. Was ist in Pasing vorhanden, zum Beispiel der Treff‚ die gelbe Telefonzelle‘?
Nein, die steht nicht mehr da. Es steht im Grunde kein Stein mehr auf dem anderen, von all den Dingen in Pasing. Das ganze Viertel ist komplett verändert, hin zum Schauderhaften. Der Pasinger Bahnhof ist voller Menschen, die komplett anders aussehen. In der kleinen Straße, wo früher das nette Café Steffi war, in dem ich meine ersten Rendez-vouz' und Erlebnisse mit Mädchen hatte, fahren jetzt Kolonnen von Schwerlasttransportern, Müllwägen und Speditionslastern durch. Die Hälfte der Leute auf der Straße spricht kein Deutsch mehr, und das Publikum in den Bahnhofshallen ist noch ein ganzes Stück dubioser als früher. Was mir aber am allerstärksten auffällt: Man sieht kaum mehr hübsche Mädchen.
Worüber kannst Du im Nachhinein über Die 12 Leidensstationen nach Pasing lachen oder gar lästern?
Über sehr viel, es befinden sich ja schließlich eine ganze Menge Gags darin. Wenn ich ein Buch fertig geschrieben habe, schaue ich es mir eine Zeitlang überhaupt nicht mehr an. Wenn ich es dann nach ein, zwei Jahren wieder zur Hand nehme, kommt es mir so vor, als habe nicht ich es geschrieben, sondern eine völlig fremde Person. Über die Witze kann ich dann fast noch mehr lachen.
Warum empfindest Du das so?
Da fällt mir nichts ein...
Immer wird erwähnt, dass alles in diesem Buch erfunden ist, doch wird der Protagonist mit Deinem Namen angesprochen. Ist es Dichtung und Wahrheit wie bei Goethe?
Dass mein Name darin auftaucht, ist eher augenzwinkernd gemeint. Als ich angefangen habe zu schreiben, sind meine Bücher ziemlich naiv wahrgenommen worden als: „Dieser Autor berichtet ganz kunstlos und direkt Episoden aus seinem Leben.“ Das Feuilleton weigert sich ja bis heute, meine Bücher zur Kenntnis zu nehmen, obwohl ich seit 15 Jahren eigentlich so berühmt sein müsste wie Sven Regener und Konsorten. Ich bräuchte jedenfalls ganz bestimmt keine eineinhalb Jahre für ein Buch, wenn ich einfach nur Erlebtes abbilden wollte. Die Wahrheit ist folgende: Ich schufte wie ein Bildhauer an meinen Texten. Ich haue über Monate Dinge aus dem Stein raus, unter ziemlichen Mühen. Da ich aber gleichzeitig auf die jeweils angesagten narrativen Manierismen pfeife und mich auch sonst wenig um politische Vorgaben kümmere, boykottiert mich beispielsweise das Feuilleton der ARD oder des ZDF, obwohl ich zu Beginn meiner Tätigkeit – unter heute pensionierten Redakteuren – bei BR öfters Kurzgeschichten veröffentlichen konnte. Doch diese ganze neue, aktuelle Feuilletons-Generation der Sender besteht in ihrer Mehrzahl aus Menschen ohne Leidenschaft und Feuer."
Würdest Du zustimmen, Die 12 Leidensstationen nach Pasing auch als Aufklärungsbuch zu sehen? Du gehst offen mit Ängsten, Niederlagen und Sehnsüchten um.
(lacht) Klar, sicher! Ich hatte ja als Vorbilder nicht nur die amerikanische Teenie-Komödie à la Superbad oder Klamotten wie Eis am Stiel im Hinterkopf, sondern auch erwiesenermaßen die BRAVO Foto Love Storys, und natürlich auch den guten alten Dr. Sommer mit seinen Aufklärungstexten. All diese Genres zu vermischen, war volle Absicht.
Für mich ist es das erste Buch, in dem ich eine Fußnote als Suchanzeige las, dass der Autor real nach einer Frau aus der Schulzeit fahndet. Hat sich die Frau gemeldet?
Das war eher ein Spaß. Der Witz beruht auf der Erfahrung, dass mir damals – 1984 – ein Mädchen aus Obermenzing stets erzählt hat, sie könne nicht mit mir schlafen, weil sie sich nur zu älteren Männern hingezogen fühle – zu Männern, die bereits Gebrechen und Alterserscheinungen aufweisen würden. Daher die Suchanzeige im Buch, gerichtet an besagtes Mädchen, da ich ja nun allmählich auch in die Ära der Gebrechen vorrücke.
Wie ist denn die Idee zu Deinem Buch „Der König von Mexiko“ entstanden?“
Ich hatte den Eindruck, dass vieles, was über Mexiko geschrieben wurde, totales Klischee und folkloristisches Gebimmel ist, von Autoren, die selbst kaum in Mexiko waren und oft noch nicht mal Spanisch beherrschten. Im Hinblick auf das Genre des US-amerikanischen Drogenkartellromans kommt mir das heute noch so vor. Deswegen wollte ich – da ich insgesamt sieben Jahre in Mexico City gelebt habe – zu diesem Thema auch meinen Senf dazugeben und sozusagen ein Buch darüber schreiben, wie Mexiko wirklich ist. Ich glaube, es ist auch ganz gut geglückt.
Stefan, was macht das Schreiben mir Dir?
Ich finde es wunderschön, Dinge zu tun, die Spaß machen, und damit vielleicht sogar seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Schreiben ist ein cooler Job, und es ist eine ehrenwerte Aufgabe, der Schreiber seiner Gesellschaft oder seiner Zeit zu sein. So wie die Spielmänner des Nibelungenlieds oder die Griots bei afrikanischen Königen.
Nochmal zurück Pasinger Buch. Du widmet es einem Deiner Protagonisten, Deinem Freund Roderick, was ist mit ihm passiert?
Roderick war einer der herausragendsten, großartigsten und scharfsinnigsten Charaktere, die ich je getroffen habe. Er war mein bester Freund. Wir waren acht Jahre lang unzertrennlich. 2000 ist er vermutlich an einer Überdosis an Opiaten gestorben.
Gibt es die Roboterstiefel und die schwarze New-Wave-Kutte noch? Hast Du die Devotionalien aus dieser Zeit aufgehoben?
Ich habe leider um das Jahr 2000 alle Kleidungsstücke weggeworfen. Nur die Aufzeichnungen, die Briefe, die Fotos und Tagebücher habe ich aufgehoben. Jammerschade! Wenn ich mal berühmt werde, wäre die Kutte vielleicht Tausende von Euro wert (lacht).
Die Digitalisierung wird in unserem Alltag immer präsenter. In den Anfängen der Corona-Krise waren durch die Staatliche Kontaktbeschränkung die Stadtbibliotheken geschlossen, und da war es ein Segen, Bücher digital ausleihen zu können. Ist das die Zukunft, welche Chance gibst Du dem gedruckten Buch?
Ich persönlich habe mit der Digitalisierung keine Probleme, und ich glaube auch weiterhin an das gedruckte Buch. Ich muss freilich sagen, dass ich die Hauptgefahr für das gedruckte Buch nicht in der Digitalisierung sehe, sondern in einem erschreckenden Sinken des Bildungsniveaus. Wenn ich U-Bahn fahre, wenn ich den jungen Leuten in der Innenstadt zuhöre, wenn ich aus meinem Fenster auf die öffentlichen Parkbänke blicke, dann sehe ich da nur mehr Leute, die an ihren Smartphones herumscrollen, Selbstironie nur sehr bedingt kennen und in ihrem ganzen Leben keine drei Bücher gelesen haben. Das ist in meinen Augen ein ganz schlechtes Zukunftszeichen für uns, die wir Buchautoren sind, die wir fürs Fernsehen schreiben und sonstwie kulturell tätig sind. Für die Generation um die 20 scheint das Buch kaum mehr Bedeutung zu besitzen.
Dein jetziger Roman ist ein herrlicher Roman, unterhaltsam und mit Lokalkolorit. Eine schöne Hommage an ein unabhängiges Pasing, das allerdings 1938 zu München zwangseingemeindet wurde. Ein Roman über das „Erwachsenwerden“, an dem – wie es im Klappentext heißt – auch Helmut Dietl seine Freude gehabt hätte. Hat schon jemand die Filmrechte gekauft? Denn so ein Kultbuch sollte verfilmt werden.
Wir sitzen dran. Ich bin ja gerade im Begriff, eine Serie zu entwickeln, auf der Basis meiner Protagonisten.
Wie sieht das im Detail aus?
Zunächst geht die Saga mit den Abenteuern der „Kajal Clique“ im winterlichen Skilager weiter. Aber mehr wird noch nicht verraten. Auf jeden Fall darf wieder viel gelacht werden.
Liebe Leserinnen und Leser, in dem Buch Die 12 Leidensstationen nach Pasing sprechen die Freunde manchmal bairisch. Das ist ein reines Lese-Vergnügen. Lassen sie sich dieses lesenswerte Buch nicht entgehen.
Stefan - vielen Dank für das Gespräch.
©Steffi.M.Black 2020 (Text)
©Sebastian Weidenbach (Bild)