Newsletter

Journal
Fräulein Prolet heißt Fritzi, sie ist Munitionsarbeiterin, 17 Jahre alt, und sie erlebt die aufreibende Zeit zwischen Revolution und Entstehung des Freistaats Bayern und sie verehrt Sonja Lerch.
mehr lesen
...

Der Nahost-Konflikt aus Sicht derer, die ihn erleben
mehr lesen
...

Erich Kästner u. Walter Trier
mehr lesen
...

Zukunft denken
mehr lesen
...

Kafka
mehr lesen
...

Die Volljährigkeit naht, und dann?
mehr lesen
...

Weihnachtszeit
mehr lesen
...

Der Mann, der alles erfand - nur nicht sich selbst.
mehr lesen
...

Auch die Nacht hat eine Farbe
mehr lesen
...

Bekenntnisse eines Außerirdischen
mehr lesen
...

Sie sind hier: Gespräche#424

Gespräche



 23.06.2019 - Sophie Scholl: Lesen ist Freiheit 



bene Verlag München

Das neue Buch der Historikerin und Autorin Barbara Ellermeier im bene Verlag heißt “Sophie Scholl - Lesen ist Freiheit!” Es enthält Briefe und Zeichnungen aus Sophie Scholls Leben von 1941 bis 1943. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und ihren Freunden druckte und verteilte die junge Studentin Flugblätter gegen den nationalsozialistischen deutschen Staat.

Ein Gespräch
zwischen Barbara Ellermeier, Historikerin, und Titus Müller, Schriftsteller,
im Anschluss der Buchvorstellung “Sophie Scholl LESEN ist FREIHEIT“
im Literaturtreff Buch & Bohne am 7. Mai 2019


TM: Barbara, du hättest eine umfangreiche Biografie schreiben können, wie du es über Hans Scholl getan hast. Stattdessen ist eine kleine, feine Briefsammlung mit Zeichnungen entstanden. Warum konzentrierst du dich auf die Jahre 1941 bis 1943? Warum hast du dich entschieden, Sophie Scholl von einer anderen, stillen Seite zu zeigen?

BE: Ich bin Historikerin und gehe immer von den Quellen aus. Also erforsche ich, für welche Zeit es die meisten Quellen gibt. Mein Buch über Hans Scholl beginnt 1937, als er das erste Mal ins Gefängnis kam. In diesen Wochen fängt er an, Tagebuch zu schreiben. Außerdem verfasst er pro Tag (!) 3–5 Briefe. Durch diese dichte Quellensituation entsteht ein Sog, der uns in sein Leben hineinzieht. Bei Sophie Scholl sind dies die Jahre 1941–1943, in denen sie besonders viele Briefe schreibt — und eben besonders viel liest.

TM: Es ist bewegend, Briefe von Sophie Scholl zu lesen aus einer Zeit, als ihr noch nicht klar war, dass sie einmal die Flugblätter der Weißen Rose mit verteilen würde. Dass sie zu der Person werden würde, die wir heute als Sophie Scholl kennen. Beeindruckt hat mich, wie wichtig für Sophie Scholl das Lesen war. Heimlich Bücher zu lesen, die unter Hitler verboten waren, war dies in schwierigen Zeiten eine Stütze für sie?

BE: Ja, das Motto des Buches ist „Meine Freiheit heimlich zu genießen, bereitet mir große Vergnügen.“ Dies nimmt sich Sophie Scholl vor. Trotz der Diktatur, in der sie damals lebt. Trotz des Krieges. Der Wunsch nach Freiheit ist der Grundgedanke, warum Sophie Scholl bei der Flugblatt-Aktion der Weißen Rose mitgemacht hat. Bücher haben sie immer begleitet.

TM: Du bist für die Buchrecherche an all die Orte gefahren, wo Sophie Scholl gelebt hat: zum Beispiel nach Krauchenwies bei Sigmaringen, wo Sophie Scholl als 19-jährige während des Reichsarbeitsdiensts stationiert war. Wer studieren wollte, musste unter Hitler ein Jahr lang ‘für das Vaterland’ arbeiten. Aber Sophie wollte ja so schnell wie möglich studieren. Eigentlich war die Zeit in Krauchenwies doch eine Art Gehirnwäsche, sechs Wochen lang, oder? In deiner E-Mail-Serie, die man auf barbaraellermeier.de abonnieren kann, habe ich ein Foto von einem zugewachsenen Tor in Krauchenwies gesehen. Was hat es dir für dieses Buch genützt, dort gewesen zu sein? Ich frage provokativ: Reicht da nicht Google Maps oder Wikipedia, um die Orte zu finden?

BE: Möglich. Aber dort vor Ort, mitten in Baden-Württemberg, weit entfernt von der nächsten Stadt, von der nächsten Buchhandlung, von den vertrauten Freunden, dort habe ich verstanden, welche Sehnsüchte sich bei Sophie Scholl gebildet haben müssen: die Sehnsucht nach Freiheit.

TM: In deinem Buch sind auch Zeichnungen abgedruckt, wunderschöne Bleistiftzeichnungen. Was hat es damit auf sich?

BE: Sophie wollte eigentlich Kunst studieren, doch dann hat sie sich für Biologie entscheiden. Das hier sind ganz intime Zeichnungen, die wir fast alle zum ersten Mal abgedruckt haben.

TM: Waren die Zeichnungen vorher unbekannt? Oder hat man sie bisher nur nicht ernst genommen, weil sie nichts mit Widerstand der Weißen Rose zu tun haben?

BE: Ja, vielleicht so ähnlich. Die Lebensgeschichte wird bei den hingerichteten Widerstandskämpfern oft nur auf das Ziel hin erzählt; bei Sophie Scholl eben, dass sie im Widerstand war und hingerichtet worden ist. Aber all das andere, was sie auch ausgemacht hatte — Zeichnen, Malen, Musizieren, Biologie, das Wandern in der Natur, Theaterspielen — nimmt man nicht wahr. Sie war sehr vielseitig begabt. Das Zeichnen hat in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt.

TM: Wie hast du die Zeichnungen entdeckt?

BE: Zwei umfangreiche Kladden sind im Münchner Archiv für Zeitgeschichte in der Leonrodstraße gelagert. Sophie Scholl hat bis zuletzt gezeichnet. Nach ihrem Tod geht ihre Schwester Inge Scholl in die Wohnung von Sophie und findet auf ihrem Schreibtisch eine Skizze, die Alexander Schmorell und Hans Scholl beim Gitarrespielen zeigt. Sie muss sie während der anstrengenden letzten, nächtlichen Flugblattaktionen angefertigt haben.
Als ich gehört habe, dass die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen zur Familie Scholl und allen Freunden, die mit im Widerstand aktiv waren, erstmals für die Forschung freigegeben worden sind, bin ich sofort nach München gefahren. Ich war eine der ersten Historiker, die den Nachlass durcharbeiten konnte. Dabei habe ich auch die Zeichnungen ansehen können.

TM: Sophie Scholl schreibt einmal in ihrem Tagebuch: Sie ist dankbar, dass man ihr im Arbeitslager den Stoff zur Zerstreuung wegnimmt, “weil sie dadurch aufnahmefähiger sei für Dinge, die wesentlicher sind”. Würdest du sagen, wir Menschen sind heutzutage zu sehr zerstreut?

BE: Ich finde, man nimmt sich heute nur noch selten die Zeit, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich denke, man braucht viel Zeit und Muße, um zu eigenen Entscheidungen zu kommen. Heute tippt man die fraglichen Themen bei Google ein, findet 20 Artikel, übernimmt dann rasch diese populäre Meinung — ohne dass man hinterfragt: Ist das meine eigene Ansicht oder die der anderen? Das Internet hat hier viel verändert. (Ich mag und nutze das Internet, ja, aber es hat eines ausgelöst: Selbstdenken und die Aufmerksamkeitsspannen sind weniger geworden.)

TM: Stimmt es, dass Sophies Schwester Inge Scholl lange darum ringen musste, die Verhörprotokolle zu bekommen? Du schreibst, sie hat sie 1992 erhalten und auf der letzten Seite der Anklageschrift zwei Worte gefunden, handschriftlich in Bleistift von Sophie Scholl geschrieben. Welche waren das?

BE: Die Verhörprotokolle lagen in Ostberlin. Erst nach der Wende sind viele der Gestapo-Unterlagen freigegeben worden. Fast 50 Jahre nach der Hinrichtung liest Sophies Schwester Inge dann die Worte, die Sophie auf der Rückseite der offiziellen Anklageschrift notiert hat. Sie hat sie wenige Stunden vor ihrem Tod, in der Gefängniszelle, niedergeschrieben. Es sind erneut die Worte: “Freiheit, Freiheit.”

TM: Es bewegt mich, dass für Sophie Scholl das Lesen mit Freiheit verbunden war. Sie hat sich durchs Lesen ihre Freiheit erhalten, und sich Fragen gestellt: Was ist wichtig für mein Leben? Wofür will ich einstehen? Wofür lohnt es sich zu kämpfen?

Bü+m: Was ziehen Sie persönlich für sich aus dem Leben von Sophie Scholl?

BE: Für mich ist diese junge Frau ein Vorbild, die einen Gedanken zu Ende denkt: Sie beschließt zu handeln und führt es dann auch durch. Sie bleibt nicht passiv, sondern kämpft aktiv für ihre Freiheit.

Bü+m: Es gibt eine CD, ein Hörbuch mit Titel “Harter Geist und weiches Herz”. Es geht um das intellektuelle Umfeld der Weißen Rose. Diese Informationen sind zum Hören. Gingen sie dem Buch voraus?

BE: Mein Hörbuch ist von 2006, da geht es nicht nur um Hans oder Sophie Scholl, sondern auch den großen Freundeskreis und die älteren Mentoren in diesem Kreis. Zu hören ist, welche Gedanken gingen dieser Aktion voraus, welche philosophischen und theologischen Überlegungen haben diesen Freundeskreis in den aktiven Widerstand geführt.

Bü+m
: Historiker machen Geschichte realistisch, als ob man die Personen wirklich getroffen hätte. Wie funktioniert da ihre Fantasie, dass die Personen so natürlich wirken?

BE: Im Prinzip macht man als Historiker ja nur ein Fenster zu den Quellen auf. Wenn der Leser tausende von Briefen selbst lesen will, muss jemand eine Auswahl treffen. Das mache ich dann, durchforste die Quellen, schreibe Erklärungstexte dazu, um Sachen begreifbar zu machen. Um den historischen Personen näherzukommen. Das ist meine Aufgabe.

Bü+m: Wir haben das Glück, die Freiheit des Lesens ganz offen genießen zu können, nicht verstecken zu müssen, Bücher stapelweise aus den Stadtbibliotheken und Buchhandlungen nach Hause tragen zu können. Ein unschätzbares Glück.
Vielen Dank für das Gespräch.

Eine E-Mail-Serie zu den unterschiedlichen Orten, an denen Sophie Scholl gelebt (und gelesen) hat, können Sie hier abonnieren:
http://barbaraellermeier.de


©Steffi M. Black für Bücher & mehr e.V. 2019